"Kaputte Kantilenen"

Überzeichnungen für sechs Stimmen und verstummte Zuspielungen

Über das Stück

Die "Kaputten Kantilenen" sind eine Art Schrottplatz der musikalischen Erinnerungen. Ohrwürmer, spontane Einfälle, aufgeschnappte Fragmente werden nebeneinander arrangiert und weitergedacht, um charakterlich kontrastierende Stationen zu bilden: einen "Inhalationskanon" - "Flickwerk" - ein "Schrumpfgespenst" - eine "Jagd" mit nasalem Trio - "Krumme Fanfaren" und als Coda eine löchrig röchelnde "Ziehharmonika".
Grundlage für das Stück war eine Reihe von Vokalimprovisationen. Sie sind sehr spontan entstanden und fungieren wie Negative der "soundscape" meines Lebens: Es sind Rückstände der Musik aller Genres. Heutzutage ist man ständig und oft ungewollt Musik ausgesetzt - wenn man im Café sitzt und arbeitet, beim abendlichen Besuch einer Kneipe, im Einkaufszentrum, im Restaurant. Wenn ich mich an diesen Orten nicht bewusst darauf konzentriere, neige ich trotzdem dazu, mir Melodien zu merken - aber falsch. Phrasen bleiben im Kopf hängen aber werden, bevor man sich dessen versieht und der Ohrwurm in Erscheinung tritt, bereits abgewandelt und variiert. In ungeplanten Vokalimprovisationen kommen manche dieser Erinnerungen in völlig unterschiedlicher Deutlichkeit wieder zum Vorschein. Die "Kaputten Kantilenen" sind deshalb stark referentiell, sie gewinnen ihr Material aus bereits existenter Musik, allerdings ist unklar, aus welcher. Bei der Auswahl von Passagen aus den aufgenommenen Vokalimprovisationen entschied ich mich für Stellen, an denen ich im Eifer des Gefechts etwas die Kontrolle verloren hatte. Spannend erschien es mir, wenn Unbeabsichtigtes passierte. In dieser Hinsicht sind die "Kaputten Kantilenen" ein Stück über den "Beifang" beim Fischen nach Klängen. Die Sedimente und Rückstände von unbewusst Aufgeschnapptem stehen im Vordergrund, die als Grundlage des Stücks dienenden Fragmente sind nur noch gefilterte und verschwommene Negative fast verschwundener Ideen. Alle Elemente wurden schon vielfach benutzt und weisen dadurch wunderschöne Gebrauchsspuren auf. Durch Fehler Entstandenes steht im Zentrum des Interesses.
Die "Kaputten Kantilenen" sind voll von Melodik, allerdings ist diese selten ganz exakt notiert: Auf präzise Tonhöhen wird bei den meisten Linien verzichtet. Dadurch bleibt jede Referenz im Ungefähren, es bleibt immer ein spekulatives Element. Genauso wie meine Erinnerung nur ungefähre Konturen von der im Café gehörten Musik festgehalten hat, sollen die Ideen soweit es geht frei von dem Korsett eines künstlichen Rasters bleiben. Affekte, emotionale Zustände bestimmen in maßgeblicher Weise den Charakter der Gesangsfragmente. Dadurch bleibt den Interpreten Freiraum bei der Gestaltung. Die Sänger können sich persönlicher einbringen, es bietet sich die Möglichkeit zur Überspitzung der Ideen, zum Zeigen von Extremen.
Wie funktioniert die Integration der Zuspielungen in die "Kaputten Kantilenen"? Während der Proben durchlaufen die Sänger diverse "Tutorials", in denen sie mit den Aufnahmen der Vokalimprovisationen singen. Ganz in der Tradition einer oralen Weitergabe imitieren sie die gegebenen Klänge. Haben sie sich diese dann ganz zu eigen gemacht, hat die Elektronik ihre Aufgabe erfüllt: Die Lautsprecher verstummen und das fertige Stück erklingt a cappella.

[Autor: Benjamin Scheuer]