"Jammerorgel"

für Ensemble mit Sampler und Klangobjekten

Über das Stück

Die "Jammerorgel" ist eine Art Metainstrument, gebildet aus fragmentarischen Klängen von klassischen Instrumenten, Klangobjekten und Zuspielungen. Die verschiedenen melodischen Fetzen, die sich der Klaviatur dieser imaginären Klangmaschine entlocken lassen, erinnern stets an Stimmen - von röchelnden Urlauten bis hin zu überzogenen klagenden Kantilenen.
Die musikalische Welt der "Jammerorgel" ist voll von Absurditäten, von Grunzen, Flüstern, Heulen, Pfeifen und Quaken. Angenommen, diese Klänge stammten von merkwürdigen überzeichneten Kreaturen: Welchen Regeln würden ihre Sprache gehorchen, wie würden sie interagieren, sich unterhalten?
Wie in den "Impulsiven Liedern" dienen Aufnahmen von spontanen Vokal- und Instrumentalimprovisationen als Ausgangspunkt für den kompositorischen Prozess. Allerdings werden diese Tapes nicht bloß imitiert, sondern sind vielmehr Grundlage für die Entwicklung von flexibleren Ausdrucksweisen. Imaginäre "musikalische Sprachen" von Monstern entstehen, bestehend aus einem Wortschatz, einer charakteristischen klanglichen Färbung und einer Grammatik - sozusagen Gehregeln, wie die verschiedenen Vokabeln aufeinander folgen. Die Aufnahmen dienen als Steinbruch, aus dem Fragmente gewonnen werden, die sich dann verselbstständigen und in anderer Reihenfolge zusammenfügen, um auf diese Weise eine völlig neue Syntax zu bilden. Als praktisches Hilfsmittel dient dabei der Sampler: Mittels der Tastatur kann der Pianist virtuos zwischen den verschiedenen "Wörtern" wechseln, der Dirigent muss nicht immer fest gefügten Abläufen folgen.
Neben der klassischen Ensemblebesetzung treten eine Reihe von Zusatzinstrumenten und Klangobjekten auf: Eine singende Säge, das Otamatone - ein japanisches Spielzeuginstrument, Lotosflöten, Mundharmonikas und ein Stylophone, ein Mini-Synthesizer, der sich mit einem Kontaktstift spielen lässt. Sie alle haben gemeinsam: Es lassen sich Glissandi und melodische Abläufe ohne vorher festgelegte Stufen spielen. Ihre Bewegungen haben meist einen sprachähnlichen Duktus, sie jammern, klagen, flüstern, beschwören und kreischen.
In gewisser Weise ähnelt die Vorgehensweise einer Übertragung des Prinzips des "Sprechgesang" auf das Instrumentale: Viele der Instrumente wie die Säge, die Lotosflöte, das Otamatone können zwar klar erkennbare Tonhöhen spielen, sind aber schwer zu kontrollieren und werden durch die Elektronik zusätzlich verfremdet. So hangeln sich die Spieler wie die Sopranistin in Schönbergs Pierrot Lunaire zwar an Tonhöhenabläufen entlang, verlassen diese jedoch immer wieder und bleiben somit in einer melodischen Grauzone. In der "Jammerorgel" kommen aber nicht wirkliche Menschen zu Wort - es werden eher monsterhaften Karikaturen adäquate Laute in eine imaginierte Sprechblase gelegt. Von Naturalismus ist die Musik weit entfernt, sie bewegt sich stets im Bereich des Übertriebenen und Grotesken. Und doch - vielleicht gerade aufgrund dieser Narrenfreiheit - verweist sie umso direkter auf uns selbst.

[Autor: Benjamin Scheuer]